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„An Tagen wie diesen“: Bilder aus dem heutigen Deutschland

Hans-Jürgen Burkard: An Tagen wie diesen. Edition Lammerhuber 2020

Hans-Jürgen Burkard: An Tagen wie diesen. Edition Lammerhuber 2020

Welches Bild von Deutschland zeigt deutschsprachige Popmusik? Was verrät sie über das Land, da unser nördlicher Nachbar ist? Für seinen Bildband „An Tagen wie diesen“ hat der rennomierte Reportage-Fotograf Hans-Jürgen Burkard Liedtexte wie Mädchen von Kreuzberg von Prinz Pi, Rotlichtmilieu von Haftbefehl, Eppendorf von Samy Deluxe oder Hinterland von Casper in eindrucksvolle Bilder übersetzt, die durchaus mit den Adjektiven frei, schräg, verstörend, fröhlich, rätselhaft beschrieben werden können.

Mit einem dicken Stapel ausgedruckter Songtexte auf dem Beifahrersitz „erfuhr“ er im Sinne des Wortes auf Tausenden von Kilometern die Republik. Suchte dabei, inspiriert von der Musik, nach Stimmungen und Situationen, die zu ihr passten. Fand sie zwischen gestrandeten Walen an Dithmarschens Nordseeküste und dem urbayrischen Gäubodenfest in Straubing, umflogen von Alpendohlen am Zugspitzgipfel und zwischen den Hinterlassenschaften der „Rock am Ring“-Besucher. Momente, die eine Stimmung wiedergeben, eine Situation dokumentieren, ein Gefühl einfangen: Widersprüche und Extreme, Aufschreien oder Verstummen, ein zärtlicher Blick auf eine fremd und zugleich vertraut empfundene Welt.

So, wie Liedermacher und Texter ihre Erzählungen aufbauen, so selektiert und fotografiert Hans-Jürgen Burkard gezielt seine Motive und baut sie mit den Songtexten zusammen. „Ordnend ins Geschehen eingreifen“ nennt er das. Sich die Welt erklären, oder es zumindest versuchen: fragmentarisch, wie sie sich zeigt, keine zusammenhängende, logisch sich fortschreibende Geschichte, ein Mosaik aus Blicken, Sekunden, Ewigkeiten. Nach langen Jahren als Fotograf in Russland kehrt er zurück, fährt mit dem Auto durch Deutschland. Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn. Er hört Radio, sammelt Hooklines wie andere Postkarten, hört Bilder und sieht Songtitel. Das Rastlose des Herumfahrens, die sinnfreie Abfolge von gesungenen Kurzgeschichten, die aus dem Lautsprecher tönt, all diese Zufälligkeiten ergeben durch Burkards Kombinationen plötzlich Sinn. Sie bilden nichts ab, sie schaffen etwas Neues: Ein Dazwischen, was in der Zwiesprache von Text und Bild entsteht. Als Reporter sucht er nach Wahrheit, als Fotograf weiß er, dass es sie nicht gibt.

Nachfolgend eine kleine Bildauswahl inklusive der Beschreibung von Hans-Jürgen Burkard. Im Buch finden sich neben jedem Bild auch die entsprechenden passenden Liedtexte, und machen so das Buch zu einem poetisch-visuellen Kunstwerk.

Bild links oben:
Hans-Jürgen Burkard: „Die Fußball-WM 2014 im Stadion „Alte Försterei“ in Berlin. Es spielte Brasilien gegen Chile. Fans des Clubs Union Berlin hatten sich ihre eigenen Sofas ins Stadion gestellt und verfolgten dort die Spiele teils bis in die Nacht auf einer riesigen Videowand. Für das Foto stand ich angeseilt und vornübergebeugt auf der Kante des Stadiondachs. Beim Endspiel war das Betreten des Dachs, wegen eines Gewitters und Blitzgefahr, leider verboten.“ Inspiriert von Fettes Brot „Fußballgott“ (c) Hans-Jürgen Burkard/Edition Lammerhuber

Bild rechts oben:
Hans-Jürgen Burkard: „Die jährliche, fast schon ritualisierte Demonstration zum 1. Mai in Berlin, hier 2013. Dies war mein erstes Foto für die Deutschland-Serie. Ich war den ganzen Weg des Protestzugs von Kreuzberg bis „Unter den Linden“ mitgelaufen. Erst als die Teilnehmer, kurz vor dem Hotel Adlon, von Polizisten in Darth-Vader-Ausrüstung gestoppt und kurzzeitig eingekesselt wurden, entstand dieses Bild, das mich an eine Foto-Ikone von Marc Riboud erinnert: ein Mädchen mit Blume in der Hand vor Bajonetten; beim „Peace March“ in Washington D.C. 1967.“ Inspiriert von Prinz Pi „Königin von Kreuzberg“ (c) Hans-Jürgen Burkard/Edition Lammerhuber

Bild rechts Mitte:
Hans-Jürgen Burkard: „Im Sommer 2016: „Tage am Meer“ und Besuch bei meiner alten Mutter in ihrem Urlaub auf Föhr. Brav, langsam neben ihr und dem Rollator an der langen Strandpromenade spazierend. Die Flut läuft auf, das Wasser steigt, die Insel Langeness mit ihren Warften am Horizont. Beim Anblick dieses Mädchens bei ihrem Rundlauf über die immer kleiner werdende Sandbank, ist Schluss mit „guter Junge“. Die Mama am Rollator stehen gelassen, „… du schaffst das schon“, die Kamera aus dem Rucksack gekramt und ein Bild gemacht.“ Inspiriert von Die Fantastischen Vier „Tag am Meer“(c) Hans-Jürgen Burkard/Edition Lammerhuber

Bild unten:
Hans-Jürgen Burkard: „Im Sommer 2016: „Tage am Meer“ und Besuch bei meiner alten Mutter in ihrem Urlaub auf Föhr. Brav, langsam neben ihr und dem Rollator an der langen Strandpromenade spazierend. Die Flut läuft auf, das Wasser steigt, die Insel Langeness mit ihren Warften am Horizont. Beim Anblick dieses Mädchens bei ihrem Rundlauf über die immer kleiner werdende Sandbank, ist Schluss mit „guter Junge“. Die Mama am Rollator stehen gelassen, „… du schaffst das schon“, die Kamera aus dem Rucksack gekramt und ein Bild gemacht.“ Inspiriert von Die Fantastischen Vier „Tag am Meer“(c) Hans-Jürgen Burkard/Edition Lammerhuber

Hans-Jürgen Burkard: An Tagen wie diesen.
Mit Texten von Silke Müller und Peter-Matthias Gaede.
Edition Lammerhuber, Oktober 2020
24 x 30 cm, 224 Seiten, 111 Fotos, Deutsch
Hardcover, Leinen gebunden,
„French Fold“-Schutzumschlag
ISBN 978-3-903101-39-5
Preis: 49,90 Euro
http://edition.lammerhuber.at/buecher/an-tagen-wie-diesen

Die Autoren

Hans-Jürgen Burkard studierte Visuelle Kommunikation. Seit Ende der 1970er Jahre arbeitete er ausschließlich für GEO und wechselte 1989 für den Stern als akkreditierter Fotokorrespondent nach Moskau, wo er in der ehemaligen Sowjetunion viele preisgekrönte Reportagen fotografierte. Sie gelten als herausragende Beispiele des klassischen Fotojournalismus.

Silke Müller studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur. 2006 übernahm sie beim Stern das Ressort Kultur und Unterhaltung, 2014 wechselte sie als Reporterin ins Hauptstadtbüro. Ihr Interesse für zeitgenössische Fotografie erwächst aus dem Bedürfnis, Gegenwart zu reflektieren und zu beschreiben.

Peter-Matthias Gaede studierte Sozialwissenschaften und an der Henri-Nannen-Journalistenschule. Von 1994 bis 2014 war er Chefredakteur von GEO. Viele GEO-Geschichten hat er gemeinsam mit Hans-Jürgen Burkard erarbeitet. Gaede, unter anderem Gewinner des Egon-Erwin-Kisch-Preises, arbeitet seit 2016 als freier Autor.