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Global Peace Photo Award: Sourav Das für das Friedensbild des Jahres 2022 ausgezeichnet

Das Friedensbild des Jahres 2022 zeigt wie unter Einhaltung aller COVID-19-Maßnahmen ein engagierter indischer Lehrer den Unterricht im Freien weiterführen konnte. (c) Sourav Das / Global Peace Photo Award 2022

Das Friedensbild des Jahres 2022 zeigt wie unter Einhaltung aller COVID-19-Maßnahmen ein engagierter indischer Lehrer den Unterricht im Freien weiterführen konnte. (c) Sourav Das / Global Peace Photo Award 2022

Als vor zehn Jahren der Global Peace Photo Award, damals hieß er noch Alfred Fried Photography Award (benannt nach dem österreichischen Friedensnobelpreisträger Alfred Fried), das erste Mal stattfand, ging es um eine visuelle Antwort auf die die Frage: Wie sieht Frieden aus? So unterschiedlich die Zugänge der Fotografen und Fotografinnen zu diesem Thema sind – sie reichen von umgesetzten gesellschaftlichen Projekten über alternative Lebensstile bis hin zu visionären Entwürfen – haben sie doch alle eines gemeinsam: sie ermutigen und inspirieren.

Dieses Jahr wurden 14.157 Bilder aus 115 Ländern eingereicht, darunter China, Russland, Indien, USA und Iran. Die Jury hatte viel zu tun. Die Preisträger und Preisträgerinnen des Global Peace Photo Award 2022 und Empfänger der Alfred-Fried-Friedensmedaille sind:

  • Ana Maria Arévalo Gosen aus Venezuela mit der Serie „Sinfonía desordenada“ (eine wilde Sinfonie)
  • Artem Humilevski aus der Ukraine mit der Serie „Giant“ (Riese)
  • Mary Gelman aus Russland mit der Serie „Minya und Tatjana“
  • Maryam Firuzi aus dem Iran mit der Serie „The Scattered Memories of Distorted Future“ (die versprengten Erinnerungen einer entstellten Zukunft)
  • Sourav Das aus Indien für „A Small yet Great Victory Over the Pandemic“ (Ein kleiner, großer Sieg über die Pandemie)

Das Friedensbild des Jahres

Gruppenbild mit Preisträgerinnen und Preisträgern sowie Jurymitgliedern (c) Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Der mit 10.000 Euro dotierte Hauptpreis ging an den indischen Fotografen Sourav Das (geb. 1987) für seine Reportage „A Small yet Great Victory Over the Pandemic“. Den Hintergrund der Reportage schildert Jury-Mitglied und Laudator Peter-Matthias Gaede so:

„Die Klassenräume verschlossen, Online-Unterricht eine Illusion, weil Handys und Laptops vielfach zu teuer sind oder Lehrkräfte nicht vorbereitet waren: Für Millionen Mädchen und Jungen hat Corona bedeutet, dass sie oft über Monate hinweg keinerlei Schule mehr hatten. Und für ungezählte Kinder ist das noch immer oder wieder Realität. Schon jetzt ist traurig klar: Corona hat einen weltweiten Bildungsnotstand geschaffen, der mehr ist als ein Verlust im Erlernen des kleinen Ein-mal-eins: In vielen armen Ländern bedeutet das Schließen der Schulen auch, dass Kinder die einzige feste Mahlzeit am Tag nicht mehr haben. 

Aber es gab und gibt auch wunderbare Ausnahmen! Es gibt Initiativen wie jene des indischen Lehrers Deepnarayan Nayak, der die Schule in seinem Dorf kurzerhand ins Freie verlegt hat. Er hat die Wände der Häuser in Schultafeln verwandelt. Er hat die Vorsichtsmaßnahmen gegen eine Infektion auf die Wände gemalt, er lehrt die Kinder im Umgang mit Masken und lässt sie in Sicherheitsabständen ein Schule im Freien absolvieren, selbst das Fach Biologie inklusive eines Blickes durchs Mikroskop. 

Der indische Fotograf Sourav Das hat Szenen aus dem Alltag dieser ungewöhnlich kreativen und liebenswerten Dorfschule eingefangen. Er hat dieser friedvollen Aktion ein kleines Denkmal gesetzt. Und auf kleinster denkbarer Ebene ist hier einer der 54 Artikel der UN-Kinderrechtskonvention umgesetzt: das Recht auf Bildung. Wie unglaublich wichtig so etwas ist, lässt sich erahnen, wenn wir auf die traurigen Folgen der Schulschließungen in vielen Ländern des globalen Südens schauen: Denn Kinderarbeit und Frühehen sind seither wieder auf dem Vormarsch.

Sourav Das, geboren 1987, bezeichnet übrigens auch seine Kamera als ein Instrument des Lernens. Er beruft sich dabei auf den berühmten Henri Cartier-Bresson, wenn er sagt: Mit einem Auge schaust du auf die Welt, mit dem anderen in dich selbst hinein. 2011 hat Das einen Master in Arts gemacht, sich danach auf die Fotografie konzentriert. Er versteht sich als „street photographer“, will sozialen Wandel in seiner Gesellschaft dokumentieren. Der Fotografie traut er dabei zu, ähnlich aussagekräftig zu sein wie eine Novelle, ein Lied oder ein Gemälde.

Wir empfinden die Arbeit von Sourav Das als ein ebenso unerwartetes wie herzerwärmendes Geschenk an uns alle! Und als einen überaus wichtigen Beitrag zu einem weltbewegenden Thema. Eine Arbeit, die bleiben wird. Und die eines Tages als ein Licht aus Zeiten der Dunkelheit weiterleuchten wird.“

Nachfolgend die ganze Serie „A small yet great Victory over the Pandemic“ von Sourav Das:

(c) Sourav Das / Global Peace Photo Award 2022

The Children’s Peace Image of the Year 2022

Das mit 1000 Euro dotierte beste Friedensbild in der Kinder- und Jugendkategorie, „The Children’s Peace Image of the Year 2022“, gewann die zehnjährige Zoya Yeadon aus Mauritius. 

Für das Bild „Dreaming“ wurde Zoya Yeadon mit dem Children’s Peace Photo Award ausgezeichnet. (c) Zoya Yeadon / Global Peace Photo Award 2022

Peter-Matthias Gaede über die Gewinnerin und ihr Bild:

„Schweben statt unterzugehen. Von Lichtreflexen und Blau umgeben. Träumen in einer friedlichen See. Zoya Yeadon ist eine gute Schwimmerin. Aber das ist nun das Unspektakulärste, was sich über sie sagen lässt. Auf Mauritius geboren, ist sie eigentlich, wie ihr (hier ebenfalls anwesender) Vater sagt, „im Herzen eine Nomadin“. Neugierig auf die Welt.  Die letzten fünf Jahre hat sie in einem Wohnmobil verbracht, dabei mehr als 80 Länder bereist. Unterrichtet wird sie in einem Programm der Wolsey Hall Oxford, einem homeschooling college, vielleicht der berühmtesten, mindestens einer der ältesten Schulen dieser Art, 1894 gegründet.

Ihre besten Fächer? Geographie, natürlich. Und Mathematik und Englisch. Aber neben ihrer Muttersprache beherrscht Zoya recht gut auch Russisch und Französisch.

Ihr Vater beschriebt sie als „erstaunlich belastbar“ und „unerschütterlich in einer Krise“. Als fröhlich und furchtlos – etwa, wenn sie vor 120 Kindern und Erwachsenen von ihren Reiseerfahrungen berichtet. Zoya fotografiert mit einer Leica ihres Vaters.

Und gäbe es ihn, müssten wir Zoya heute noch mit einem weiteren Preis ausstatten. Sie hat die nun wirklich längste Anreise hinter sich, die wohl jemals eine Preisträgerin, ein Preisträger auf sich genommen hat, um an diesem schönen Abend dabei zu sein. In Dubai gelandet, ist sie bereits am 10. Oktober in Richtung Wien gestartet. Im Auto Ihres Vaters via Saudi-Arabien, Jordanien, Israel, dann per Fähre nach Griechenland…“

Lois Lammerhuber, der gemeinsam mit seiner Frau Silvia Lammerhuber den Global Peace Photo Award initiiert und seit Anbeginn organisiert hat, erinnerte daran, dass „Frieden nicht die Abwesenheit von Krieg ist, sondern etwas, das ich als ‚gelungenes Leben‘ bezeichnen möchte. Jedes Jahr berühren uns die eingereichten Fotos und Geschichten aufs Neue mit ihrer Kreativität und Passion für das Gute und Friedvolle auf dieser Welt.“

Auf Einladung von Barbara Trionfi, der scheidenden Direktorin des International Press Institute (IPI), hielt Joanna Krawcyk, Präsidentin der Gazeta Wyborcza Foundation, Chairwoman of the Leading European Newspaper Alliance  und „Golden Pen of Press Freedom“-Preisträgerin, ein Plädoyer für den Wert der Fotografie in der Wahrnehmung der Welt: „Was wir jetzt eindeutig erleben, ist eine Intensivierung der visuellen Kultur, Fotografie ist als Vehikel des Wandels und als Mittel des Protests außerordentlich wichtig geworden. Die Beschreibung der Welt mit Bildern in einem pluralistischen Medienumfeld kann nur in Gesellschaften funktionieren, die von Informations- und Meinungsfreiheit geleitet werden. Das ist ein Kernelement jeder funktionierenden Demokratie – die Medienfreiheit, und ich sehe sie als wesentlich für den Schutz der Menschenrechte.“

Keynote von Friedensnobelpreisträgern

Die Keynote hielt Friedensnobelpreisträger 2022 Alexander Cherkasov (c) Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

Die Keynote des Abends hielt Alexander Cherkasov, der das Memorial Human Rights  Centre repräsentierte, das am 10. Dezember in Oslo den Friedensnobelpreis 2022 erhalten wird, gemeinsam dem Center of Civil Liberties aus der Ukraine – dessen Vorsitzende Oleksandra Matviichuk eine Videobotschaft geschickt hatte – und dem belarussischen Dissidenten und Menschenrechtler Ales Bjaljazki.

Oleksandra Matviichuk, Vorsitzende des ukrainischen Center of Civil Liberties sandte eine Videobotschaft (c) Parlamentsdirektion / Johannes Zinner

„In der Tat hat Memorial viele Jahre lang versucht, etwas Ähnliches zu tun wie die Preisträger der heutigen Zeremonie: Die Vergangenheit aufzuzeichnen, die totalitäre Vergangenheit Russlands und Europas im zwanzigsten Jahrhundert, das Jahrhundert der totalitären Imperien, um zu verhindern, dass dies wieder geschieht. Nie wieder. Welche Art von Speicher wird dafür benötigt? Was war es wert, bewahrt zu werden, um eine Wiederholung zu verhindern? Das Gedenken an die Opfer natürlich. Und eine weitere Erinnerung – die Erfahrung, unter unvorstellbaren Umständen in Würde zu leben. Das Gedächtnis des Widerstands. Und außerdem: Sich zu erinnern, heißt natürlich zu kämpfen. Kampf gegen die Straflosigkeit von Kriminellen. (…) Das Menschenrechtszentrum beschäftigte sich also mit zeitgenössischen Menschenrechtsverletzungen in den postsowjetischen Kriegen. Wir haben dokumentiert, wir haben geholfen, wir haben Gerechtigkeit gefordert. (…) Ein Leben auf der Suche nach Sinn. Die Erleuchtung der Herzen. Ich denke, das ist der richtige Weg. Das ist genau das, was auch Sie tun. Durch die Magie der Fotografie, durch die Magie des Lichts halten Sie den Moment an. Mit einem Blitzlicht erleuchten Sie die Seelen der Menschen. Ich würde gerne glauben, dass wir eine gemeinsame Sache verfolgen.“

Alfred-Fried-Friedensmedaillen 2022 gingen an

Ana Maria Arévalo Gosen für „Sinfonía desordenada“

An die in Spanien lebende venezuelanische Fotografin Ana Maria Arévalo Gosen für ihre Arbeit „Sinfonía desordenada“. Die Lobreden auf alle Preisträger und Preisträgerinnen hielt Peter-Matthias Gaede. In seiner Laudatio über Ana Maria Arévalo Rosen sagte er:

„Musik als Chance zur Heilung, als Kraftzentrum, als Weg in die Gemeinschaft und Befreiung aus der Gewalt: Ana Maria Arévelo Gosens Foto-Reportage spielt vor dem Hintergrund großer Krisen im Land ihrer Geburt, in Venezuela. Einer sozio-ökonomischen und politischen Krise, verschärft durch die Corona-Pandemie mit den bekannten Folgen vor allem für Kinder und Jugendliche in Ländern des globalen Südens.

Es geht hier um ein Projekt, junge Menschen vor einem Absturz ins Drogen- und Kriminellen-Milieu zu retten. Durch die Integration in ein Jugend-Orchester. Eine Initiative der Sinfónica Gran Mariscal de Ayacucho unter Elisa Vegas, der einzigen Dirigentin eines venezolanischen Sinfonie-Orchesters. Und gemeinsam mit dem Grammy-Nominierten Sänger Horacio Blanco.

Mitglieder des professionellen Ensembles schlossen sich dafür mit street kids zusammen für eine Serie von Arrangements zusammen. Spielten Klassiker aus dem Repertoire der bekannten Ska-Band „Öffentliche Unruhe“ ein. Die Aufnahmen wurden an verschiedenen Wohnorten während des Lockdowns gemacht, mit dem Handy, dann gemixt. Schließlich gab es auch zwei öffentliche Konzerte auf der Straße.Von einem „Geschenk an die Hoffnung“ bezeichnet die Fotografin das Projekt.

Ana Maria Arévalo Gosen wurde 1988 in Caracas, Venezuela geboren, startete 2009 in Frankreich ein Politik-Studium, schloss ein Fotografie-Studium an, arbeitete ab 2014 als Fotografin in Deutschland. Eine Erkrankung ihres Mannes machte sie auch zu einer Aktivistin der Aufklärungsarbeit über Krebs, während sie weiterhin vor allem zu Frauen-Themen arbeitet. Internationale Medien und Ausstellungen veröffentlichen und zeigen die Arbeit von Ana, die gegenwärtig in Bilbao lebt.“

(c) Alle Bilder: Ana Maria Arévalo Rosen / Global Peace Photo Award

Artem Humilevskiy für „Giant“

Peter-Matthias Gaede: „In den Fotos des ukrainischen Fotografen Artem Humilevskiy sehen wir einen sehr, sehr schwergewichtigen Mann, daher der Name der Serie „Giant“. Wir sehen, welche merkwürdigen, komischen, lächerlichen, rätselhaften, rührenden, skurrilen, verqueren, auch liebenswerten Posen er einnimmt. Wir halten ihn für schamfrei. Wir wundern uns. Wir kennen ihn nicht. Aber natürlich schauen wir hin. Und dann, wissend, dass er uns seine Bilder aus der Ukraine eingesandt hat, fangen wir an, uns zu fragen: Warum macht er das? Wer ist er? Was will er uns mitteilen?

Dazu hat Artem Humilevski an den Rand von „Riesig“ Folgendes notiert, und es hat mit der Corona-Pandemie zu tun: Einer Zeit, von der er schreibt, es hätten in ihr ja nicht nur Staaten ihre Grenzen geschlossen. Sondern im Grunde auch jedes Individuum habe sich abkapseln müssen. Der Nachbar sei zur Gefahr geworden, einschließen hätten wir uns müssen. Und dabei seien wir uns selber begegnet – oft intensiver, als uns das gut getan hätte. Auch unserer inneren Leere seien wir dabei begegnet. 

Und das sei die Zeit gewesen, als er beschlossen habe, sich selber zu portraitieren. Und damit das nicht tragisch werde, habe er es selbst-ironisch angelegt. Und zugleich sei das sein Weg gewesen, sich selber zu akzeptieren. Ein Tagebuch sei so entstanden, ein Plädoyer für Empathie und Offenheit. 

Was wir hier auch feiern – neben einer außergewöhnlich originellen und mutigen Fotoarbeit – ist das herzerfrischende Ende von body shaming. Ist der Ruf, Menschen jedweder Form (man könnte auch sagen Hautfarbe, Religion, Herkunft, Ethnie) tolerant zu begegnen. Sich nicht abzuwenden, wenn jemand nicht unseren Stereotypen von Normalität entspricht. Es geht hier um nicht weniger als um das Menschenrecht auf Diversität! Und wer sich ein wenig näher mit Artem Humilevski befasst, zumal vor dem Hintergrund eines verbrecherischen Überfalls auf sein Land, der wird den Ernst seiner Arbeit erkennen. Sie ist wahrlich nicht nur lustig. Hier macht sich einer nackt, hier macht sich einer wehrlos, um zu entwaffnen. Nach Frieden zu rufen.

Seine Großmutter, der er ein weiteres seiner ebenso intellektuellen wie einfach nur liebevollen Kunst- und Fotografie-Projekte gewidmet hat, starb in einem Konzentrationslager der Nazis. Der Bruder seiner Großmutter verhungerte. Artem widmet ihr eines seiner künstlerischen Erinnerungsprojekte. Ein anderes widmet er dem Thema Annäherung, Überwindung von Isolation, Ausbruch aus der Agonie.

Wir haben uns in diesen sanften und überaus friedvollen Riesen verliebt, als wir unsere ersten Reflexe überwunden hatten. Und es war dann nur ein ganz kleiner Schritt, ihn als jemanden wahrzunehmen, der eine überaus zärtliche Botschaft an uns hat. Und die heißt: Liebe.

Artem Humilevski, 1986 in Mykolayiv in der Ukraine geboren, ist viele Jahre Manager eines Agrar-Unternehmens gewesen. Dann Berater für Kultur, Erziehung und Sport in einem Regionalrat. 2019 hat er ernsthaft mit der Fotografie begonnen, hat einen Kurs an der MYPH-Schule des Sergey Melnitchenko belegt. Im Westen war er lange weitgehend unbekannt. Hat aber inzwischen schon Ausstellungen außer in seinem Heimatland und in Polen auch schon in Venedig, New York, in Deutschland, England, der Schweiz und in Tschechien gehabt, Nominierungen bei internationalen Preisen, Veröffentlichungen auch außerhalb der Ukraine.“

Auszug aus der Serie „Giant“ (c) Artem Humilevskiy / Global Peace Photo Award 2022

Mary Gelman für „M+T (Minya und Tatjana)“

Peter-Matthias Gaede: „Wir konnten gar nicht anders: Wir waren wie magisch angezogen von der ungeheuren Intensität und Intimität, mit der uns Mary Gelman am Leben dieser zwei Menschen mit Down Syndrom hat teilhaben lassen. Minya und Tatyana. Es ist ja die Frage, was eigentlich „biblisch“ meint, aber wir hatten das Gefühl, da etwa Biblisches zu sehen. Oder weniger ergriffen: Wir hatten das Gefühl, auf etwas zu sehen, was an die Ikonographie alter Malerei heranreicht. Diese Suggestion der zwei so besonderen Gesichter über der Kerze! So etwas Inniges, auch Irritierendes, so etwas Geheimnisvolles, so etwas Schönes, glaube ich, sieht man sehr selten. So etwas Friedliches. So etwas Zartes.

Geschöpfe mit Behinderungen waren ja im Kommunismus, in seiner Behauptung, nichts anderes als den idealen Menschen zu erschaffen, nicht vorgesehen. Es durfte sie im Grunde gar nicht geben. Nur die Perfektion. Dann aber, nach dem Zusammenbruch dieses auf Lüge aufgebauten Systems, sind auch in Russland ganz vorsichtig die Ideen entstanden, dass auch die Schwachen, die Un-Perfekten, die Nicht-Normalen ein Recht auf Leben und Anerkennung und Selbstverwirklichung haben. Und so entstand 1994 zum Beispiel rund 150 Kilometer östlich von St. Petersburg eine auf den Werten der anthroposophischen Camphill-Bewegung aufbauende Dorfgemeinschaft mit dem Namen Svetlana, nicht viel größer als vier Häuser, eine Heimat für geistig und körperlich beeinträchtigte Menschen.

Minya und Tatyana sind zwei von ihnen. Sie lernten sich 1995 kennen und lieben. Waren zwei von ihnen. Denn Tatyana lebt nicht mehr, sie wurde von Corona hinweggerafft. Wir sehen ein Requiem auf sie. Ein Requiem auf die Kraft der Zuneigung. Auf die Geborgenheit. Auf die Schönheit der Einvernehmlichkeit. Auf den Trost, der aus Zuwendung kommen kann. Jenseits auch nur der geringsten Spur der bedauerlichen anderen Gewissheit, dass der Mensch auch des Menschen Wolf sein kann. Und es oft genug ist.

Mary Gelman war zunächst nur einen Tag lang im Dorf von Minya und Tatyana, ist dann aber über fast zwei Jahre lang immer wieder zu ihnen zurückgekehrt, vorsichtig und mit der Klugheit einer zarten Beobachterin. Sie hat Soziologie studiert, befasst sich  – immer auch sehr grundsätzlich und als Studierende – mit Geschlecht und Körperlichkeit, Grenze und Identität und Diskriminierung und arbeitet als Fotografin dagegen an. Gewalt gegen Frauen in der russischen Gesellschaft ist eines ihrer Themen, auch „Fatphobia“, wie sie den Ekel vor Übergewichtigen nennt, Scham und Ausgrenzung, die russische Diffamierung von LGBTQ waren schon ihre Themen.

Mary Gelman, als Fotografin eine praktizierende Menschenrechtlerin, hat eine Liste von Auszeichnungen, Ausstellungen, Veröffentlichungen, die hier vorzulesen den Abend sprengen würde. Zu Recht gehört sie, Mitglied der berühmten Fotoagentur VII, zu den schon mit fast allen weltweit relevanten Medaillen behängte Fotografin. Ist sie eine Inkarnation von Empathie, Vertrauen und jener Sensibilität, die die ganz Großen ihres Faches ausmachen.“

(c) Mary Gelman / Global Peace Photo Award 2022

Maryam Firuzi für „The Scattered Memories of a Distorted Future“

Peter-Matthias Gaede: „Maryam Firuzi hat der Arbeit, die wir hier auszeichnen, einen sehr rätselhaften Titel gegeben. Sind Erinnerungen an die Zukunft möglich? Bedeutet es, dass sich Vergangenheit wiederholen wird? Und bedeutet das Düsternis, Rückkehr zu leidvollen Erfahrungen?

Klar ist: Maryam Firuzi ist eine Stimme der iranischen Frauen. War es schon, bevor das mutige Aufbegehren vor allem junger iranischer Frauen gegen die Macht einer so genannten Sittenpolizei begann, die Frauen vorschreibt, wie sie sich nach Ansicht eines überkommenen Männer-Regimes zu kleiden und zu benehmen haben.

Ein Land am Rande einer Revolte, eher in einem latenten Krieg als im Frieden – aber auf was sehen wir da in der ungemein poetischen Arbeit von Maryam Firuzi? Wir sehen auf ein Fotoprojekt, das aus einer tiefen Melancholie der Autorin entstanden ist: Sie selber schreibt von Trauer und Verzweiflung, von Krisen aller Art, politischen, ökonomischen, ökologischen, von Fluchtgedanken, von der Pandemie. Sie beschreibt sich selber als „zerstörten Platz“. Folglich hat sie Ruinen zum Schauplatz ihrer Arbeit gemacht. Und in diese aber hat sie Frauen und ihr künstlerisches Werk gestellt, von denen sie sich „Heilung“ erhofft. Inspiration und Wirkung.  In aufgegebenen Schulen sehen wir sie, in verlassenen Bahnhöfen, Tankstellen, Garagen. In den Gemäuern ehemaliger Weinkeller, Theater, eines Badehauses.

Und all das ist ein einziges Plädoyer für die Kraft von Frauen. Für die Kraft dieser Frauen, trotz allem im Land zu bleiben. Und nicht zu schweigen. Und nicht klein beizugeben. Es geht um eine Ermutigung. Um eine Respektbezeugung für die, die noch träumen. Und das hat die Jury davon überzeugt, diese wunderbare Arbeit von Maryam Firuzi als einen Ruf nach Frieden auszuzeichnen.

Maryam Firuzi, 1986 in Schiras im Iran geboren, ist mindestens den treuen Beucher/innen unserer Preisverleihung schon ein Begriff. Denn bereits 2018 haben wir sie ausgezeichnet. Damals für eine Arbeit über lesende Frauen. Lesen! Würden die Menschen mehr lesen, sagt Firuzi, würden sie vor allem Gedichte lesen, wäre die Welt vielleicht eine friedlichere, eine bessere. Weil Lesen toleranter machen könne, Empathie für andere erzeugen könne, Verständnis für das Leben, das nicht das eigene ist.

Maryam Firuzi hat sich früh mit Literatur und Malerei befasst, später mit persischer Kalligraphie. Sie hat ein Diplom in Mathematik, einen Bachelor in Software Engineering. Sie hat an der Kunstuniversität in Teheran studiert und einen Master in Cinema and Film Studies. In einem Film hat sie sich mit dem Einfluss von Ginsbergs Gedichten auf Jugendliche im Iran der islamischen Revolution befasst. Freiheit und die Stimmen der Frauen in der Gesellschaft sind ihr besonderes Interesse. Der Kampf um das Recht der Frauen, sich frei zu bewegen. 

Maryam Firuzi ist unsere erste doppelte Preisträgerin. Es freut uns sehr, ihr nun zum zweiten Male gratulieren zu können!“

(c) Maryam Firuzi / Global Peace Photo Award 2022

Global Peace Photo Award

Der Global Peace Photo Award wird in Kooperation von Edition Lammerhuber, Photographischer Gesellschaft (PHG), UNESCO, Österreichischem Parlament, der Vereinigung der Parlamentsredakteurinnen und -redakteure, des Internationalen Press Institute (IPI), des Deutschen Jugendfotopreises, World Press Photo Foundation, POY LATAM, LensCulture und Vienna Insurance Group ausgelobt.
 
Inspiriert wurde der Preis von dem österreichischen Pazifisten und Schriftsteller Alfred Hermann Fried (* 11. November 1864 in Wien; † 4. Mai 1921 in Wien). Fried wurde 1911 gemeinsam mit dem Organisator der Haager Konferenz für Internationales Privatrecht Tobias Asser der Friedensnobelpreis verliehen.